Was sind Schlafburschen?
Eine Arbeiterfamilie im späten 19. Jahrhundert
Im Zeitalter der Industrialisierung, d.h. in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert, strömten Hunderttausende von zumeist jungen Menschen von den Dörfern in große Städte wie Berlin, Hamburg und Essen, um in den neu entstehenden Fabriken Arbeit zu suchen. Viele von ihnen hatten so wenig Geld zur Verfügung, dass sie dazu gezwungen wurden, die Betten anderer werktätigen Menschen, die sich gerade noch einfache Wohnungen in den sogenannten Mietskasernen leisten konnten, stundenweise zu mieten, während die eigentlichen Mieter in der Fabrik, als Hausdienerinnen oder auf der Baustelle beschäftigt waren. Man nannte diese mittellosen Menschen "Schlafgänger" bzw. "Schlafburschen" und "Schlafmägde", da sie sich nur zum Schlafen in den Wohnungen anderer Menschen aufhalten durften.
Wohnungsnot in einer Großstadt
Die großen Städte platzten vor Neuankömmlingen aus der Provinz. Damals war beispielsweise der Berliner Bezirk Prenzlauer Berg das am dichtesten besiedelte Wohngebiet auf der ganzen Welt. Wie muss man sich die Wohnbedingungen in den damaligen großstädtischen Mietskasernen vorstellen? 1890 beschrieb der Sozialreformer Paul Göhre die Situation in Chemnitz mit diesen Worten:
Das Traurige an dem ganzen Wohnungswesen dieser Leute war vielmehr ein andres, schon oft beklagtes: das Mißverhältnis zwischen der Enge der Räume und der Zahl ihrer Bewohner. Solche eben geschilderten Wohnräume genügten wohl jungen, erst verheirateten Leuten mit ein oder zwei Kindern zu einem halbwegs gesunden, zufriedenen Wohnen: wo sich aber eins, zwei, drei Kinder mehr einstellten, und wo man um des bessern Auskommens willen noch gar Fremde in Kost und Logis zu nehmen gezwungen war, gab es dann Zustände, die sich leicht nachfühlen, aber schwer beschreiben lassen. Das aber war selbstverständlich die Regel. Weitaus die meisten Familien hatten eine Schar Kinder, hatten Schlafleute und Kostgänger. (...)
Damals mussten sogar Kinder in den Fabriken arbeiten, wie
in dieser Baumwollspinnerei in Amerika
Es kommt noch schlimmer. Wieder ein Handarbeiter meiner Kolonne, bei dem ich am häufigsten war, der eine energische, fleißige Frau, ehemalige Köchin, zwei von ihm und ihr herzlich geliebte und sorgsam gehütete Kinder, ein Mädchen von etwa neun und einen Jungen von sechs Jahren hatte, bewohnte in einem mit Menschen vollgestopften Hintergebäude mit drei jungen Schlossergesellen aus unsrer Fabrik ebenfalls nur ein enges zweifenstriges Zimmer, einen Alkoven und eine Bodenkammer. Auch hier schliefen Eltern und Kinder je in einem Bette zusammen, und zwar so, daß diese zwei Betten fast den ganzen Raum einnahmen, die drei Burschen in der etwas geräumigern Bodenkammer ebenfalls nur in zwei Betten, also zwei einander fremde zusammen in einem Bette, und nur einer allein, wofür er natürlich entsprechend mehr zu bezahlen hatte. Wie verbreitet diese Sitte war, beweist die geringfügige Thatsache, daß ich, wenn ich auf meinen Wohnungssuchen meinen Wunsch zu erkennen gab, ich möchte gern „für mich," wie ich meinte, in einem Zimmer allein, schlafen, wohl fast immer dahin verstanden wurde, allein in einem Bette.
(Paul Göhre, "Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche". Leipzig: Grunow, 1891, S. 20-26.)
Heinrich Zille, "Der späte Schlafbursche"
Schlafburschen gab es bis in die zwanziger Jahre hinein. Der Berliner Maler und Zeichner Heinrich Zille hat das Elend der alten Mietskasernen und des Schlafburschenwesens immer wieder in seinen Bildern festgehalten. Wie Zille einmal selber sagte, "Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt." Allerdings waren die Leute damals nicht immer traurig. Trotz - oder gerade wegen? - ihrer Armut und Enge konnten sie wunderbar und ausgelassen feiern, wie dieses und viele andere Bilder wunderschön zum Ausdruck bringen:
Heinrich Zille, "Hinterhof-Zirkus"
Heute leben wir in einem neuen Jahrtausend, und zwar in einer Zeit, die vielleicht nicht immer besser ist, aber die auf jeden Fall ganz anders aussieht. Die Mietskasernen von einst sind teilweise in begehrte, wunderschön renovierte Wohnhäuser verwandelt worden. Die verarmten Arbeiter, Handwerker und Schlafleute von damals sieht man dort nicht mehr. Aber wenn man selber in so einem alten Haus wohnt (meines wurde im "Dreikaiserjahr" 1888 gebaut) und die Augen schließt, kann man manchmal ihre Nähe spüren. Nein, wir sind diese Menschen, und die Welt, in der sie sich bewegten, noch lange nicht los.
Eine Arbeiterwohnung um 1890
Ob die Schlafburschen manchmal auch uns spüren...?